Wie die Regelfragen das Regelwerk "verändern" können

Andrei Jusufhodzic für handballreferee.at

Andrei ist IHF/EHF Schiedsrichter und Vorsitzender

der Regel -und Schiedsrichterkommission in Wien

 

Gastkommentar von Hanspeter Knabenhans

IHF - Regelexperte 


Bedeutung der IHF-Regelfragen

Bevor wir auf das behandelnde Thema näher eingehen, sollte uns bewusst sein, dass das Handballregelwerk in bestimmten Bereichen einen gewissen Interpretationsspielraum offen lässt. Dieser Interpretationsspielraum wird in einigen Bereichen seitens der IHF durch die offiziellen IHF-Regelfragen geschlossen. 

Das bedeutet, wenn eine bestimmte Spielsituation in den IHF-Regelfragen behandelt wird, stellt die richtige Antwort dieser Regelfrage die offizielle Interpretation des Handballregelwerks dar. Das bedeutet auch, dass die IHF-Regelfragen durchaus als offizieller Bestandteil des Handballregelwerks betrachtet werden müssen.

 

Wie die IHF das Regelwerk mittels Regelfragen präzisieren kann, erklärt uns der IHF Regelexperte Hanspeter Knabenhans.


Regel 7:10 - neue Interpretation seitens der IHF

KOMMENTAR HANSPETER KNABENHANS

Ein Beispiel, wie die IHF auf Entscheidungen Einfluss nimmt, ohne das Regelwerk zu ändern, findet man in der Regelfrage 7.1:

 

Spieler WEISS 3 gelingt es, den in Richtung Seitenlinie fliegenden Ball noch vor der Seitenlinie mit einer Hand WEISS 7 zuzuspielen. Er überquert dabei mit einem Fuß die Seitenlinie. WEISS 7 fängt den Ball und erzielt ein Tor. Wie ist zu entscheiden?

 

a) Einwurf für Team SCHWARZ

b) Freiwurf für Team SCHWARZ

c) Tor

d) Hinausstellung von WEISS 3

 

Überquert der Spieler die Seitenlinie, ist Regel 7:10 Abs.1 anzuwenden. Dort ist das Verlassen der Spielfläche verboten, wenn ... ("um einen Abwehrspieler zu Umlaufen"). In der Praxis (Ausbildung) hat man dies gedeutet als "um sich einen Vorteil zu verschaffen". Womit sich die Frage stellt, wann sich der Spieler einen Vorteil verschafft.

 

Die IHF hat bis vor wenigen Jahren die Antwort c) als richtig angegeben - der Spieler trat nicht absichtlich über die Seitenlinie. Das ist heute anders: Vor oder beim Spielen des Balles wird das Überqueren der Seitenlinie als "Vorteilnahme" im Sinne von 7:10 Abs.1 gewertet und der Entscheid fällt heute anders aus - ohne dass sich das Regelwerk als solches geändert hätte.

Kommentar Ende

 

Hinweis auf unseren Regel-Werk-Blog "Einwurf, Freiwurf oder doch weiterspielen lassen"

In unserem Regelwerk-Blog vom 07.10.2016 wurde die von Hanspeter erwähnte Regelfrage behandelt. Damals lautete die richtige Entscheidung "Tor".

Durch die Veröffentlichung neuer IHF-Regelfragen sind die Ausführungen im erwähnten Regelwerk-Blog nicht mehr aktuell.

Die neue Interpretation der Regel 7:10 wird selbstverständlich auch in der Ausbildung übernommen. 

Resümee

Die neue Interpretation der Regel bringt eine gewisse Erleichterung für die Schiedsrichter, da jetzt die Entscheidung getroffen werden kann, die bisher ohnehin von den Mannschaften und Zuschauern erwartet wurde, und zwar Ballbesitz für die gegnerische Mannschaft. Allerdings ist hier zu beachten, dass die richtige Entscheidung Freiwurf und nicht Einwurf lautet. 

 

Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die neue Interpretation in der Praxis nicht wortwörtlich umgesetzt werden kann. 

Eine ähnliche Auslegung gibt es bereits bei einer 7-Meter-Wurf Entscheidung im Zusammenhang mit der Abwehr im Kreis (Anm.: erster Kontakt zwischen Verteidiger und Angreifer findet in dem Moment statt, in welchem sich der Abwehrspieler bereits im Torraum befindet).  Hier  werden die Schiedsrichter geschult, nur das deutliche Betreten des Torraumes als Abwehr im Kreis zu beurteilen.

So sollte auch die Schulung der Schiedsrichter im Umgang mit der Regel 7:10 erfolgen. Es ist sicherlich nicht im Sinne der Regel, dass das kleinste Überqueren der Seitenlinie zum Ballverlust führt.