Tor oder kein Tor?

Eine auf dem ersten Blick einfache Antwort zeigt die spannende Komplexität des Handballregelwerkes

Die hier abrufbare Szene ist ein gutes Beispiel dafür, wie interessant und spannend unsere Sportart im Hinblick auf das Regelwerk sein kann.

 

Spielsituation
Nach dem Wurf auf das Tor der Mannschaft A fängt der Tormann A1 den Ball, in dem er diesen zwischen Arm und Oberkörper fixiert. Dennoch rutscht er anschließend zusammen mit dem Ball klar über die Torlinie.
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Regeltechnische Beurteilung
Auf dem ersten Blick scheint die Lösung der Aufgabe einfach zu sein. Mit Hilfe der Torkamera ist klar zu erkennen, dass der Ball mit vollen Umfang die Torlinie überquert hat. 

Gemäß Regel 9:1 ist ein Tor erzielt, wenn der Ball die Torlinie vollständig überquert hat

Bevor sich jedoch die Schiedsrichter in dieser spezifischen Spielsituation auf die Regel 9:1 berufen können, muss geklärt werden, ob die Regel 12:1 zu Anwendung kommt. 

Die Regel 12:1 besagt, dass auf ein Abwurf entschieden wird, wenn...(II) der Torwart den Ball im Torraum unter Kontrolle gebracht hat... 
Das Regelwerk verlangt ausschließlich eine Ballkontrolle und KEINE Körperkontrolle. Weiters ist regeltechnisch nicht relevant, wie der Tormann der Ball unter Kontrolle bringt. 

 

Hat der Tormann die Ballkontrolle im Torraum erlangt, ist ab diesem Zeitpunkt bereits auf Abwurf zu entscheiden. 
Genauso ist vorzugehen, wenn der Tormann den Ball im Torraum unter Kontrolle gebracht hat, aber anschließend mit dem Körper über die 6-Meter-Linie rutscht. In so einem Fall darf nicht auf Freiwurf für die gegnerische Mannschaft entschieden werden, sondern auf Abwurf. 

In unserem Beispiel müssen die Schiedsrichter daher die Entscheidung treffen, ob der Ball vor dem vollständigen Überqueren der Torlinie vom Tormann unter Kontrolle gebracht wurde oder nicht. 
Mit nachstehendem Screenshot ist zu erkennen, dass der Ball bereits vor dem Überqueren der Torlinie vom Tormann unter Kontrolle gebracht wurde.

Die richtige regeltechnische Entscheidung lautet daher: kein Tor - Spielfortsetzung Abwurf. 

An dieser Stelle muss festgehalten werden, dass die Beurteilung durch den Schiedsrichter, ob der Ball durch den Tormann tatsächlich unter Kontrolle gebracht wurde oder nicht, regeltechnisch eine Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters ist. 

Praxis
Fairerweise muss man gestehen, dass in der Praxis, ohne der Möglichkeit eines Videobeweises mittels Torkamera, diese Entscheidung voraussichtlich anders ausfallen würde. Betrachtet man das korrekte Stellungsspiel des Torschiedsrichters, ist zu erkennen, dass durch den Körper des Tormannes die freie Sicht auf den Ball versperrt ist. Bei einer spielbedingten Position des Torschiedsrichters links vom Tor, wäre eine Beurteilung der Situation (Ball unter Kontrolle  bzw. nicht unter Kontrolle) eventuell leichter möglich. 
Dennoch ist es regeltechnisch unumgänglich, bei einer nachträglichen Spielvideoanalyse oder bei vorhandenen technischen Möglichkeiten und einer Inanspruchnahme des Videobeweises im Spiel, die Regel12:1 bei der Beurteilung der Situation zu berücksichtigen. 


Andrei Jusufhodzic für handballreferee.at

Andrei ist IHF/EHF Schiedsrichter und Vorsitzender

der Regel -und Schiedsrichterkommission in Wien.